Traditionelle
Natursagen gehören zur Geschichte einer Region. Sie haben einen
eindeutigen Ortsbezug, indem sie etwas über Berge, Höhlen, Quellen oder
Steine berichten. Sie erzählen von der Landschaft und der Naturbezogenheit
und sind Teil der topografischen Mythologie. Natursagen sind wie das übrige
Kulturerbe ein Abbild der Landschaft und bezeichnen deren spezifische
Einzigartigkeit.
Natursagen, Mythen und klassische Erzählungen, zu denen auch die Zaubermärchen gehören, beinhalten gesellschaftliche, ethische und naturphilosophische Fragen. Immer wieder beschreiben sie die Mensch-Natur-Beziehung. Zudem erklären Mythen und Sagen das menschliche Dasein, die Herkunft einer Kultur und die Identität einer Gruppe. Mythenmärchen sind kulturübergreifend und nehmen uns auf eine Reise zur faszinierenden Anderswelt einer Landschaft mit. In der Antike gehörte zu dieser diesseitigen Anderswelt der Genius loci „Ortsgeist“, den man um Schutz und Segen ansuchte. Den Genius loci stellte man sich als Person, Ahnengeist oder in Tiergestalt vor.
Traditionelle
Sagen und Mythen sind nicht nur kulturgeschichtlich und topografisch von
Interesse, sondern sie enthalten innerhalb der „Geschichte“ (story) auch einen
mythischen Kern. Dieser ist durch den archaischen Animismus einer beseelten
Welt geprägt. Ebenso finden wir darin Spuren der schamanischen Weltsicht
sowie Reste einer Ahninnenkultur. Aufschlussreich ist auch, welches
Handlungsmuster Mythenmärchen aufweisen. Dieses ist zyklisch angelegt und
folgt dem Lebens- und Jahreskreis. Einen solchen rhythmischen Ablauf finden
wir auch im Kalender sowie in den rituellen Jahresbräuchen wieder. Man
vergleiche dazu beispielsweise die altgriechischen Mysterien oder den altkeltischen Kalender.
Ein interessantes Beispiel, wie Sagen, Funde der Archäologie und
Kulturgeschichte zusammenspielen, sind die Erzählungen von den drei Frauen
oder den drei Schicksalsbestimmerinnen. Solche Mythensagen erinnern in
Europa an die keltisch-römischen Matronen, denen Hunderte von steinernen
Altären mit Inschriften geweiht wurden. Ebenso aufschlussreich ist das
sogenannte Königsgrab von Seddin in
Brandenburg. Es handelt sich um ein Hügelgrab aus der jüngeren Bronzezeit,
von dem sich die Menschen von einer Generation zur anderen erzählen, dass in
diesem Hügel ein König in einem dreifachen Sarg begraben sei. Als im 19.
Jahrhundert die Grabkammer entdeckt und geöffnet wurde, konnten tatsächlich
drei Urnen geborgen werden. Ausserdem erkannte man an den Wänden Farbspuren,
die darauf hinwiesen, dass die Grabkammer mit rot-weissen Mustern verziert
war.
Königsgrab von Seddin
Natur- und Mythensagen sind im Kulturerbe der Landschaft von unschätzbarem
Wert. Selbst wenn sie erst später aufgeschrieben oder bearbeitet wurden, enthalten sie
noch einzelne Kernmotive. Wo sie fehlen, haben wir oft zur
Naturstätte keine Hinweise mehr. Sie vermitteln in ihrer Art die lokale,
mythische Weltsicht, die uns hilft, die „jenseitigen“ Naturorte zu
verstehen. Diese haben eine ganz andere Denkweise, nämlich eine animistische
Naturphilosophie, die wir erst verstehen, wenn wir sie wieder gelernt haben.
Lesen wir Mythensagen kritisch und differenziert, gehören sie nicht nur zum
Kulturerbe, sondern auch zum „Mehrwert“ der Kulturlandschaft.
Mythensagen sind vielfältig
bedeutsam:
-
Erinnern
sich an Naturorte und alte Kulturen
-
Erklären
Funde und Bräuche einer Landschaft
-
Zeigen im
Kern eine belebte Natur und Ahnenverehrung
-
Tradieren
den Genius loci einer Region
-
Schaffen
Identität und Integration durch Rituale
-
Verbinden
Gemeinschaften durch ähnliche Überlieferungen
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