Dr. phil. Kurt Derungs

Kulturerbe der Landschaft



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Sagen und Mythen - Traditionelle Erzählungen

 

Traditionelle Natursagen gehören zur Geschichte einer Region. Sie haben einen eindeutigen Ortsbezug, indem sie etwas über Berge, Höhlen, Quellen oder Steine berichten. Sie erzählen von der Landschaft und der Naturbezogenheit und sind Teil der topografischen Mythologie. Natursagen sind wie das übrige Kulturerbe ein Abbild der Landschaft und bezeichnen deren spezifische Einzigartigkeit.  

Natursagen, Mythen und klassische Erzählungen, zu denen auch die Zaubermärchen gehören, beinhalten gesellschaftliche, ethische und naturphilosophische Fragen. Immer wieder beschreiben sie die Mensch-Natur-Beziehung. Zudem erklären Mythen und Sagen das menschliche Dasein, die Herkunft einer Kultur und die Identität einer Gruppe. Mythenmärchen sind kulturübergreifend und nehmen uns auf eine Reise zur faszinierenden Anderswelt einer Landschaft mit. In der Antike gehörte zu dieser diesseitigen Anderswelt der Genius loci „Ortsgeist“, den man um Schutz und Segen ansuchte. Den Genius loci stellte man sich als Person, Ahnengeist oder in Tiergestalt vor.

 

 

Traditionelle Sagen und Mythen sind nicht nur kulturgeschichtlich und topografisch von Interesse, sondern sie enthalten innerhalb der „Geschichte“ (story) auch einen mythischen Kern. Dieser ist durch den archaischen Animismus einer beseelten Welt geprägt. Ebenso finden wir darin Spuren der schamanischen Weltsicht sowie Reste einer Ahninnenkultur. Aufschlussreich ist auch, welches Handlungsmuster Mythenmärchen aufweisen. Dieses ist zyklisch angelegt und folgt dem Lebens- und Jahreskreis. Einen solchen rhythmischen Ablauf finden wir auch im Kalender sowie in den rituellen Jahresbräuchen wieder. Man vergleiche dazu beispielsweise die altgriechischen Mysterien oder den altkeltischen Kalender.

 

 

Ein interessantes Beispiel, wie Sagen, Funde der Archäologie und Kulturgeschichte zusammenspielen, sind die Erzählungen von den drei Frauen oder den drei Schicksalsbestimmerinnen. Solche Mythensagen erinnern in Europa an die keltisch-römischen Matronen, denen Hunderte von steinernen Altären mit Inschriften geweiht wurden. Ebenso aufschlussreich ist das sogenannte Königsgrab von Seddin in Brandenburg. Es handelt sich um ein Hügelgrab aus der jüngeren Bronzezeit, von dem sich die Menschen von einer Generation zur anderen erzählen, dass in diesem Hügel ein König in einem dreifachen Sarg begraben sei. Als im 19. Jahrhundert die Grabkammer entdeckt und geöffnet wurde, konnten tatsächlich drei Urnen geborgen werden. Ausserdem erkannte man an den Wänden Farbspuren, die darauf hinwiesen, dass die Grabkammer mit rot-weissen Mustern verziert war.

 

Königsgrab von Seddin


Natur- und Mythensagen sind im Kulturerbe der Landschaft von unschätzbarem Wert. Selbst wenn sie erst später aufgeschrieben oder bearbeitet wurden, enthalten sie noch einzelne Kernmotive. Wo sie fehlen, haben wir oft zur Naturstätte keine Hinweise mehr. Sie vermitteln in ihrer Art die lokale, mythische Weltsicht, die uns hilft, die „jenseitigen“ Naturorte zu verstehen. Diese haben eine ganz andere Denkweise, nämlich eine animistische Naturphilosophie, die wir erst verstehen, wenn wir sie wieder gelernt haben. Lesen wir Mythensagen kritisch und differenziert, gehören sie nicht nur zum Kulturerbe, sondern auch zum „Mehrwert“ der Kulturlandschaft.

 

Mythensagen sind vielfältig bedeutsam:

  • Erinnern sich an Naturorte und alte Kulturen

  • Erklären Funde und Bräuche einer Landschaft

  • Zeigen im Kern eine belebte Natur und Ahnenverehrung

  • Tradieren den Genius loci einer Region

  • Schaffen Identität und Integration durch Rituale

  • Verbinden Gemeinschaften durch ähnliche Überlieferungen

 

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